Der fremde Friede

Friede, gerade im aktuellen Krieg Putins gegen die Ukraine, ist fremd. Jetzt sprechen vorwiegend die Waffen. Es geht um Waffenüberlegenheit, um die durchsetzungsstärkeren militärischen Strategien. In der militärischen Rückerorberung an Russland verlorener Gebiete durch die Ukraine, in der Zerschlagung russischer Feuerkraft und in der so geschaffenen Notwendigkeit des militärischen Rückzuges der russischen Armee von den Frontlinien meint man das Mittel gefunden zu haben, dem Moskauer Regime die Aussichtslosigkeit des Krieges vor Augen zu führen. Durch die gewaltsame Bekriegung des Unrechts seitens Russlands soll das Recht der Ukraine wieder eingesetzt werden. Zaghafte Einwürfe, dass Frieden nicht mit militärischer Gewalt geschaffen werde, sondern durch Sprache, Verhandlung und Verständigung, werden mit dem Hinweis abgewiesen, Russland sei noch nicht genug beschädigt. Die Zeit für Verhandlungen sei noch nicht gekommen.

Wird dafür je Zeit sein? Lässt die nukleare Asymmetrie zwischen Russland und der Ukraine eine militärische Beschädigung zu, die die Nuklearmacht Russland zu Verhandlungen zwingt? War es nicht das sog. Gleichgewicht des Schreckens zwischen dem Warschauer Pakt unter der Führung der Nuklearmacht Russland und der NATO mit der Zugehörigkeit der Nuklearmacht USA, das die Weltordnung bis Ende der achtziger Jahre stabilisieren sollte? Die Irrationalität der atomaren Apokalypse spannte bislang den rationalen Raum für die Entspannungspolitik der großen Militärmächte auf. Der Friede wurde umdefiniert in die Abwesenheit großflächiger militärischer Konflikte mit nuklearem Einsatzpotential. Freilich, die Vermeidung solcher Konflikte ist kein Friede. Friede ist nicht allein Abwesenheit von Krieg oder Gewalt. 

Kant (1796) schreibt: „Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 12). In einem Entwurf zum Text von 1786 ergänzt Kant: „die Unterlassung von Feindseligkeiten ist noch keine Sicherheit, daß Feindseligkeiten nicht stattfinden“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 64).

Der sog. „nukleare Friede“ verhinderte bisher das direkte militärische Aufeinandertreffen von atomar gerüsteten Großmächten. Die atomare Apokalypse galt es zu verhindern. „Die Möglichkeit der apokalyptischen Wendung gehört von nun an zu den Grundtatsachen des Menschseins“, schreibt 1982 der Philosoph Dieter Henrich (Henrich 1987, S. 105). Wir wissen heute, dass die Apokalypse nicht vorwiegend durch die Nuklearwaffen droht, sondern durch unseren maßlos-gierigen Umgang mit den Ressourcen und Erhaltungssystemen unseres Planeten. „Der zu Recht eingeklagte Fortschritt ist für sich keine Rechts- und Friedensgarantie gewesen.“ (Henrich 1987, S. 105) Beides erbringt der Fortschritt: den Blick der Menschheit auf den blauen Planeten aus der Distanz des Alls. Dieser Blick ist nicht nur ästhetisch. Er veranschaulicht auch die Verantwortlichkeit der Menschheit für ihren Planeten: „Er ist nicht nur der ihre, sondern ihr nun auch preisgegebene wie anheimgegebene, und nicht nur zur Vernutzung in Kampf und Komfort, sondern zum Gewahren und Bewahren dessen, was ihn aus je eigenem Recht belebt, und ebenso zur Wahrung der eigenen Erkundungskraft, die sich auf ihm auswirken kann, ohne ihn zu deformieren.“ (Henrich 1987, S. 111) Der Fortschritt ermöglicht auch genau dieses andere: die Deformation bis hin zur Apokalypse, weil wir Menschen an jenem Stiftungsakt vorbeileben, den I. Kant 1786 als die conditio sine qua non für den Frieden ableitete: „Der Friedenszustand muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung von Feindseligkeiten ist noch keine Sicherheit, daß Feindseligkeiten nicht stattfinden könnten. Diese Sicherheit soll wechselseitig garantiert werden durch die benachbarten Menschen und Nationen, und eine derartige Garantie kann nur in einem gesetzlichen Zustand geschehen.“ (Kant, Ausgabe 1984, S. 64 f.)

Darin besteht die Fremdheit des Friedens: Er ist nicht das Ergebnis ausgekämpfter Überlegenheit als Grundlage für Verhandlungen. So scheinen es aber viele Politiker derzeit für den Krieg Putins gegen die Ukraine zu sehen. Gerade deutsche Politiker sollten dies aus der Historie des Landes anders wissen. Konstitutiv für den Frieden in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg war vorwiegend nicht die Vernichtung des Dritten Reiches. Deswegen wurde auch Versailles nicht wiederholt, um die Vernichtung historisch aufrecht zu erhalten. Konstitutiv waren Stiftungsakte wie das Deutsche Grundgesetz als Grundlage der parlamentarischen Demokratie, der UNO samt dem UN-Sicherheitsrat, der Genfer Konventionen, des internationalen Gerichtshofes in Den Haag, des internationalen Währungsfonds. Wir verfügen seit der Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg über viele Einrichtungen, die den Frieden im Sinne Kants „gesetzlichem Zustand“ sichern sollen. 

Es befremdet, dass man die verfügbaren Friedensinstrumente erst post factum einsetzen will, nachdem dem Moskauer Regime die Aussichtslosigkeit des Krieges in der Ukraine vor Augen geführt worden ist. Jene ist hypothetisch; denn Moskau verfügt über die Möglichkeit zur nuklearen Apokalypse. Bei den gerade vorgetragenen Erwägungen bleibt allerdings richtig: „Gedanken können eine akute Bedrohung nicht abwenden. Sie sind aber unentbehrlich dafür, daß sich überhaupt eine Zukunft wahrhaft erschließt. Und sie sind unentbehrlich für einen Frieden, der mehr ist als die Katastrophenfreiheit unserer Überlebenszeit, somit auch für einen Frieden, der nicht so angstgeboren und ausdruckslos ist wie der, in dem wir noch leben und den wir mit aller Mühe bestenfalls erhalten können.“ (Henrich 1987, S. 112) Was Henrich vorträgt, zeigt, was den Frieden für uns fremd macht: (1) Frieden ist nicht angstgeboren. Angst fördert Verhaltensweisen der Vermeidung und des Trotzes. Beide Verhaltensweisen zielen auf die Wiederherstellung von Sicherheit. Der kognitive Fehler dabei besteht darin, dass nur die Symptome, nicht aber die Ursache der Angst, die im Subjekt der Angst liegen kann, angegangen werden. Vermeidung und Trotz führen nicht zur Verhaltensänderung des Betroffenen. Jene erst lindert oder heilt die Angstzustände und stabilisiert tatsächlichen Frieden. (2) Frieden ist nicht ausdruckslos. Frieden gründet in einer Sprache, die Prinzipiendiskurse fördert, die diesseits des „sakralen Komplexes“ (J. Habermas) von der Würde des Menschlichen sprechen, eine Sprache, in der „die gegenseitige Perspektivenübernahme, die notwendig ist, um einen Konflikt unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu betrachten“ (Habermas 2022, S. 85), zur immer wieder mühevollen Praxis wird. Dies würde dem „subkutanen Zerstörungswille[n]“ (Henrich 1987, S. 109) entgegenarbeiten und den Frieden aus seinem utopisch fremden Status in die Gegenwart holen – als ausdrucksvolles und mutiges Ziel eines kritischen Pazifismus.

Quellen:

  • Habermas, J. (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Henrich, D. (1987): Nuklearer Frieden, in: ders.: Konzepte. Frankfurt (Suhrkamp), S. 103 – 113
  • Kant, I. (1984): Zum ewigen Frieden. Mit Texten zur Rezeption 1796 – 1800. Leipzig (Reclam)
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