Die Erotik des Friedens

Es kam so, wie A. Baricco in der „Postille über den Krieg“ es imaginierte, nachdem er Homers Ilias neu erzählt hatte: „Man betrachtet den Krieg als Übel, das man vermeiden sollte, gewiss, aber man ist weit davon entfernt, ihn als absolutes Übel zu betrachten: Bei der erstbesten, in schöne Ideale eingewickelten Gelegenheit wird es wieder zu einer realisierbaren Option in den Krieg zu ziehen. Man entscheidet sich sogar mit einem gewissen Stolz dafür.“ (Baricco 2018, S. 190) Kurz hielten wir den Atem an: Raketeneinschlag im polnischen Grenzgebiet. Wir schreiben den 15.11.2022. Einige mutmaßten: jetzt muss die NATO in den russischen Krieg gegen die Ukraine direkt eingreifen. Bündnisfall? Endlich die Gelegenheit, schön eingewickelt in die NATO-Doktrin?

Wieder lasen und hörten wir die Forderung, mindestens mehr Material in den Krieg zu bringen, für den guten Zweck. Verteidigungsermöglichung der Ukraine. Überleben in der Ukraine. Verteidigung der europäischen Wertegemeinschaft. Bereiten diese Forderungen nicht auch ein mögliches Teilen eines Sieges vor, den die Ukrainer um den Preis von ungezählten Leben erkämpfen? Mit unserem Material und unserem Einsatz an Geld, Wohlstand, Beistand? Worauf wir dabei stolz sind, ist noch nicht genau auszumachen. Dass wir der Ukraine möglicherweise zu einem Sieg verholfen haben werden, der damit auch ein wenig unser Sieg wird? Der Sieg der überlegenen westlichen Waffensysteme? Oder ist es der Stolz darüber, dass sich die europäischen Demokratien, die tatsächlich solche sind, als wehrhaft erwiesen haben – auch angesichts eines durch nichts rechtfertigbaren Angriffs auf die Ukraine? Oder wird beides sich im Stolz mischen? 

Dem Stolz des Kriegens ist eine Erotik des Friedens entgegen zu setzen. Für wenig anderes ist Stolz anfälliger als für Erotik. Wir sollten dem Verführerischen am Frieden trauen. Frieden ist anmutig. Er  poltert nicht wie das Kriegerische. Er bewegt sich mit natürlichem Charme in den Räumen, die ihn willkommen heißen. Seine Schüchternheit zeigt sich, wenn er sich zurückzieht, weil zuerst die Wörter laut zu Drohungen anschwellen, die nach einigem Hin und Her im Lärm der Waffen münden. Jetzt schweigt der Frieden und schweigend weicht er zur Seite. Er kann warten, bis er wieder wahrgenommen wird. Denn zu übersehen ist seine anmutige Lebensgestalt kaum.

Frieden ermöglicht die Menschlichkeit der Welt. Jene setzt Liebe zur Wirklichkeit voraus. „Es geht um die Frage, wieviel Wirklichkeit auch in einer unmenschlich gewordenen Welt festgehalten werden muß, um Menschlichkeit nicht zu einer Phrase oder einem Phantom werden zu lassen“, schreibt Hanna Arendt in ihren „Gedanken zu Lessing“ (2020, S. 72). Krieg hingegen zerstört die Wirklichkeit. Er schafft nicht Wirklichkeit. Krieg stellt Tatsachen hin: Wo Wirklichkeit war, öffnet er die Tür zum Nichts, in dem kein Stein über dem anderen bleibt und kein Mensch bleibt, wie er einmal war. Der Krieg kennt nur Tatsachen, Wirklichkeit verliert sich im Krieg. 

Wirklichkeit ist nur im Frieden möglich. Solange der Frieden am Rand des Krieges wartet, bleibt genügend Wirklichkeit „auch in einer unmenschlich gewordenen Welt“. Denn irgendwann wird die Aufmerksamkeit der Kriegenden auf den Frieden gelenkt, auf dessen Anmut, berührt von dessen Charme. Denn jener lässt die Wirklichkeit als das Umfassendere der Tatsachen ahnen. Ohne Sein kein Nichts (Jankélévitch 2006, S. 72 ff.). Der Stolz der Kriegenden aber verzögert den Weg von der Wahrnehmung des Friedens zur Zuwendung zum Frieden. Wenn Frieden zugelassen wird, dann geht der Sieg verloren, ist die intuitive Sorge des Kriegenden. Die Sorge um den Sieg lässt den Blick auf die Tatsachen des Krieges vermeiden. Sie zeigen sich als die Zeichen des Nichts, der Zerstörung der Wirklichkeit. Jene nun ist im Frieden, nicht im Krieg. Ist die Wirklichkeit nicht anziehender als die Tatsachen, in die sie zerlegt, zerstört wird? 

Menschen leben in der Wirklichkeit. Tatsachen allein genügen nicht, um menschlich zu leben. Die Wirklichkeit umfasst die Tatsachen in den Ordnungen, die Menschen in ihnen finden oder ihnen geben. In der Lebenswirklichkeit des Menschen erhält, was einfache Sache ist, Bedeutung. Die Bedeutungen entstehen im Gespräch, das Menschen pflegen. Bedeutung bildet sich in Beziehungen. Menschliche Beziehung drücken sich im Gespräch aus: „Was nicht Gegenstand eines Gesprächs werden kann, mag erhaben, furchtbar oder unheimlich sein, es mag auch eine Menschenstimme finden, durch die es in die Welt hineintönt; menschlich gerade ist es nicht. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir das, was in der Welt, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.“ (Arendt 2020, S. 77) Durch das Gespräch zwischen Menschen wird das Beziehungsgefüge der Tatsachen zum Bedeutungszusammenhang der Wirklichkeit. Das ist der Charme des Friedens: Menschlich leben!

Aristoteles, der antike Meisterdenker, bezeichnet das menschliche Verhältnis im Wirklichen als Freundschaft, philia (Nik.Ethik, Buch VIII). Die den Bedeutungszusammenhang im Gespräch stiftende Freundschaft macht die Wirklichkeit attraktiver als die Tatsachen. Sie macht den Frieden attraktiver als den Krieg. Denn sie vermenschlicht die Wirklichkeit. Wirklichkeit und philanthropia, „Liebe zu den Menschen“, gehören zusammen (Arendt 2020,S. 77) und „das vollzieht sich im Zusammenleben und im Teilen von Reden und Gedanken. In diesem Sinne ist zu sagen, dass die Menschen zusammenleben (sy-zen), und nicht wie vom Vieh, dass sie dieselbe Weide teilen“ (Nik. Ethik, VIII 1170 b) G. Agamben betont in seiner philosophischen Analyse dieser Stelle (Agamben 2018, S. 86): „entscheidend ist, dass die menschliche Gemeinschaft … durch ein Zusammenleben (Syzen wird hier zum Terminus technicus), das nicht durch Teilhabe an einer gemeinsamen Substanz [wie bei den Tieren die Weide, C.R.], sondern durch existenzielle, sozusagen gegenstandslose Mit-Teilung definiert ist: Freundschaft als Mit-Empfindung des bloßen Faktums zu sein“. Freundschaft als Mit-Empfinden des Lebens.

Darin besteht die Erotik des Friedens:

Frieden entfaltet sich in der Menschlichkeit der Wirklichkeit. Jene bildet sich im freundschaftlichen Gespräch von Menschen, der Philanthropie, in dem die Welt in ihren Tatsachen besprochen wird. Zur Bedeutung kommt. Mitgeteilt wird. „Freundschaft ist die Mit-Teilung, die jeder Teilung vorausgeht, denn was sie zu verteilen hat, ist das bloße Faktum der Existenz, das Leben selbst. Und diese gegenstandslose Verteilung, dieses ursprüngliche Mit-Empfinden, ist die Grundlage jeder Politik.“ (Agamben 2018, S. 86) Die Erotik solcher Freundschaft gründet darin, dass sie nicht naiv nach Idealem strebt, sondern realistisch Liebe zum Menschen lebt. Von solcher Erotik belebt wartet der Frieden immer am Rand des Krieges. 

Quellen:

  • Agamben, G. (2018): Das Abenteuer. Der Freund. Berlin (Matthes & Seitz)
  • Arendt, H. (2. Aufl. 2020): Freundschaft in finsterer Zeit. Berlin (Matthes & Seitz)
  • Aristoteles (1972, ed. Gigon, O.): Nikomachische Ethik. München (dtv)
  • Baricco, A. (2018): So sprach Achill. Hamburg (Hoffmann & Campe)
  • Jankélévitch, V. (2. Aufl. 2006): Erste Philosophie. Einleitung in eine Philosophie des „Beinahe“. Wien (Turia & Kant)
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