Ich freue mich auf das neue Jahr.

In einem Interview im Jahr 1982 antwortete M. Foucault auf die Frage, was er nun sei: Philosoph, Historiker, Strukturalist oder Marxist? „Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.“ (Foucault et al. 1993, S. 15)  

2023 hat begonnen. Der erste Tag neigt sich bereits dem Ende zu. Ein wenig müde vom feierlich-nachdenklichen Jahresbeschluss verbunden mit gutem Essen, Wein und einem ausgezeichneten Sekt aus St. Pauls in Südtirol erarbeite ich den ersten Blog zum Neuen Jahr. Ich freue mich auf das neue Jahr. Denn es gibt mir die Chance etwas zu werden, was ich am Anfang nicht war. Auf den Satz M. Foucaults traf ich bei der vorbereitenden Lektüre für einen anderen Beitrag. Heute las ich ihn noch einmal. Ist es wirklich erforderlich, genau zu wissen, wer ich bin? 

Wie häufig gehen wir dieser Frage aus dem Weg. Neue Bekannte fragt man nach der Herkunft oder dem Beruf. Als ob das etwas Schlüssiges darüber aussagte, was jemand sei. In der Psychotherapie arbeiten wir viel zu oft und zuweilen auch ein wenig verbissen an der Frage: Wer bin ich? Diese Frage aller Fragen wird von I. Kant (1987, S. 25) – darauf wies E. Tugendhat (2010, S. 37) hin – aus der Engführung der Selbstreflexion wieder in die Weite des „was“, des Attributiven, der Entwicklung, gestellt. Die letzte von I. Kants vier anthropologischen Leitfragen lautet deshalb bewusst: „Was ist der Mensch?“ Damit eröffnet sich ein veränderter Denkraum: Ich bin nicht nur „der Mensch“ als Antwort abstrakter Selbstbefragung (Wer?). Ich bin auch ein bestimmter Mensch, einer mit Herkunft und Vergangenheit, ein durch die Reihe seiner Entscheidungen Gewordener, ein Mensch im sozialen Raum, mit Bindungen und Beziehungen, einer, der sich hier und jetzt für das Nächste entscheidet, was für ihn sein wird. Ich bin eben auch ein „was“. Weil das, was ich bin, immer auch beeinflusst und erst aufzufinden ist, kann ich es nie genau wissen, was ich bin. Was ich im engen Zeitfenster der Antwort auf die Frage, was ich denn nun sei, von mir sage, ist eine Momentaufnahme im Prozess des Werdens. Das ist die einzige Genauigkeit in meiner Antwort.

Wichtig ist die Bereitschaft und die Möglichkeit zu werden: in Teilen anders, neu, unerwartet, überrascht über sich selbst zu sein, weil ich etwas geworden bin, was ich am Anfang nicht war. Das ist für mich das existenzielle Ziel dieses Jahres, zuweilen staunend zu sehen, was ich geworden bin und am Anfang nicht war. Dazu muss ich dem Neuen im Jahr 2023 aufmerksam begegnen. Ich werde versuchen, möglichst in der Gegenwart zu leben, um, was ist, nicht bereits in der Wahrnehmung mit Wertungen aus dem Gelebten, dem Wissen zu kontanimieren. Ich werde die Haltung des „Seinlassens“ bewusster leben: Was schon da ist, darüber kann ich nach-denken. Was aus sich selbst oder durch die Wirkung auf mich interessant, lebenswichtig oder gar notwendig erscheint, mit dem kann, mag, darf und soll ich mich beschäftigen. Das Nach-Denken, Nach-Fühlen, Nach-Gehen ist der Raum, in dem ich dann auch zu Wertungen komme. Wenn es mir mehr gelingt, so zu leben, dann mindert das den Stress, der oft dadurch Wucht entwickelt, weil wir uns selber in die Zukunft überholen, für die sich viel vorstellen lässt, von der wir annehmen, sie wenigstens in Ausschnitten planen zu können. Viel zu oft verwechseln wir dann unsere Planungen mit dem Kontrafaktischen der Realität. 

Mit dieser Lerneinsicht überschreite ich die Schwelle ins neue Jahr. Ich freue mich darauf, neue Gegenwart zu erleben und darin zu werden, was ich am Anfang nicht wahr.

Quellen:

Foucault, M. et al. (1993): Technologien des Selbst. Frankfurt (Fischer)

Kant, I. (1987): Akademie-Textausgabe Bd. IX, Berlin (De Gruyter)

Tugendhat, E. (2010): Anthropologie statt Metaphysik. München (Beck)

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