Macht Gewalt ohnmächtig?

Der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine, immer noch; die Angriffe auf Ordnungs- und Rettungskräfte in der Silvesternacht; vor kurzem, gewaltbereiter Aktivismus bei der Räumung von Lützerath, gerade. Der Umgang damit scheint schwierig. Die Frage ist: Macht Gewalt ohnmächtig?

H. Arendt (1906 – 1975) diskutierte den Gegensatz von Macht und Gewalt in einem gleichnamigen Essay von 1970 (zit. nach der 28. Aufl. 2021). Die zentrale These darin ist: „Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatantetse Manifestation der Macht verstehen.“ (Arendt 2021, S. 58) Macht und Gewalt unterscheiden sich. Sie sind Gegensätze. Der historische Hintergrund für den Essay war der Vietnamkrieg der USA und die damit verbundenen, durchaus gewaltsamen studentischen Protestbewegungen der 1960’iger Jahre. Die philosophischen Folgerungen Arendts aus der soziologischen Analyse beider historischer Ereignisse ergeben aus meiner Sicht Verstehensmöglichkeiten für die Zunahme der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft und die tatsächliche, brutale Gewalt im russischen Krieg gegen die Ukraine.

Arendt rekonstruiert in ihrem Essay (Kapitel 2) die Begriffe Macht und Gewalt. 

Was heißt Macht? „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen oder im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (Arendt 2021, S. 45) Macht wird getragen von einer zählbaren Mehrheit, die Macht verleiht und zugleich die Ausübung der Macht kontrolliert. Sie legitimiert sich durch ihren Ursprung, der einvernehmlich gewollten Gründung einer Gruppe. Die Legitimität der Macht entspringt dem Gründungsakt der Gruppe; sie wird nicht durch Ziele und Zwecke der Gruppe konstituiert (Arendt 2021, S. 53). Löst sich die Gruppe auf, verliert die Macht die Legitimation und verfällt: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“ (Arendt 2021, S. 42) Geht Macht verloren, verführt der Prozess zur Gewalt (Arendt 2021, S. 55).

Was ist Gewalt? „Gewalt ist … durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet.“ (Arendt 2021, S. 47). Sie verlässt sich auf künstliche Werkzeuge (Arendt 2021, S. 43)  wie Waffen, Gefängnisse (Foucault 2020, S. 293 ff.), Lager (Agamben 2019, S. 125 ff.). Arendt zufolge gilt für Gewalt: „Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt.“ (2021, S. 52) Gewalt ist von einem Zweck abhängig; sie selbst bringt also nichts hervor, sie ist nicht kreativ. Sie ist ein zu einem bestimmten Zweck eingesetztes Mittel, das seine Berechtigung durch den erhält, der den Zweck setzt. Insofern kann sie als „rational“ (Arendt 2021, S. 78) bezeichnet werden. Sie ist nicht blind. Gefährlich wird Gewalt, wenn das abgezweckte Ziel zu lange nicht erreicht wird. Dies ist am Krieg gegen die Ukraine gut zu beobachten. Was als „militärische Spezialoperation“ geplant war, das zügige Überrollen der Ukraine durch russische Streitkräfte samt der Entmachtung der ukrainischen Regierung, ging nicht auf. Kann der Zweck des Gewalteinsatzes nicht in kurzer Zeit erreicht werden, dann nehmen „Gewalttätigkeiten in allen Bereichen des politischen Lebens“ überhand (Arendt 2021, S. 79 f.), nicht nur gegen die Kriegsopfer, sondern auch beim Aggressor selbst. Auch das legt die neuere Nachrichtenlage über Russlands Krieg nahe. Das Ergebnis kann sein, dass der Zweck, die Eroberung und Annexion der Ukraine nicht erreicht wird, dafür aber „ die Welt gewalttätiger geworden ist, als sie es vorher war“ (Arendt 2021, S. 80).

Wir können zum Gegensatz von Macht und Gewalt festhalten: „Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen. Gewalt jedoch nicht.“ (Arendt 2021, S. 52) Das Gemeinwesen, also der auf Einvernehmen beruhende Zusammenschluss einer Anzahl von Menschen, legitimiert Macht als essentiell. Sie kann in organisierten Gemeinwesen Züge der Autorität annehmen, „wenn das Funktionieren des sozialen Lebens sofortige, fraglose Anerkennung von Anordnungen erfordert“ (Arendt 2021, S. 47). Macht ist zudem auf Kreativität hin angelegt; sie ermöglicht die Entwicklung des Gemeinwesens als Handlungsraum. Handeln ist die Fähigkeit, die „den Menschen zu einem politischen Wesen macht“ (Arendt 2021, S. 81). Macht ist also eine generische Bedingung für Politik.

Prallen Macht und Gewalt aufeinander, kann die Gewalt die Macht vernichten: „aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann.“ (Arendt 2021, S. 54) Gewalt zielt auf Reaktion, nicht – wie die Macht – auf Entscheidung. „Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist.“ (Arendt 2021, S. 55) Als Beispiel dafür nimmt die Philosophin den Einmarsch russischer Truppen in Prag, die den politischen Frühling der Tschechoslowakei im Frühjahr 1968 beendete. Für Arendt drückte „die russische Lösung des tschechischen Problems einen entscheidenden Machtverlust des russischen Regimes“ (Arendt 2021, S. 55) aus. Das Ergebnis: dabei zahlten nicht nur die Besiegten einen hohen Preis, sondern auch die Sieger. Jene „zahlten mit dem Verlust der eigenen Macht“ (Arendt 2021, S. 55). Ein vergleichbares Ergebnis zeichnet sich im Krieg Putins und seines Regimes gegen die Ukraine ab. Selbst wenn Putin die Annexion einiger ukrainischer Regionen gelänge, wäre das gemessen an seinem hegemonialen Anspruch ein signifikanter Machtverlust – mit der Gefahr neuen Gewalteinsatzes. „Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“ (Arendt, S. 54)

Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt bietet eine Verstehensmöglichkeit des russischen Krieges gegen die Ukraine an. Denn der Machtverlust Russlands spitzte sich mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Auflösung des Warschauer Paktes und des zunehmenden Interesses der freiwerdenden Staaten an der Europäischen Union und der Nato zu. Machtverlust führt zur Gewalt. Jene kann Macht vernichten; „sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen“ (Arendt 2021, S. 57). Darin besteht der Irrtum jedes Krieges. Krieg stärkt keinesfalls die Macht des Angreifers, sondern verbreitet Gewalt. Das kann die Brutalität der russischen Kriegsführung erklären. Es geht darum, die Macht gewaltsam zu brechen, die die Ukraine durch das gesellschaftliche Einvernehmen gewinnt, unter allen Umständen den eigenen Staat zu erhalten. Genau darin liegt – philosophisch gesehen – die Rechtfertigung der Ukraine, materiale Gewalt zur Verteidigung einzusetzen: zum kurzfristigen Zweck der Verteidigung der politischen Souveränität. Die Gewalt ist nicht legitim, aber sie ist durch die legitime Macht auf der Grundlage der politischen Übereinkunft des ukrainischen Volkes, sich verteidigen zu wollen, gerechtfertigt. Der Zweck dieses Einsatzes militärischer Gewalt besteht darin, die faktischen Bedingungen für den politischen Neubeginn des Staates aufrechtzuerhalten. Das Ziel dabei ist es, die politische Handlungsfähigkeit als menschliche zu erhalten. Jene Handlungsfähigkeit ist die Bedingung dafür, „etwas Neues zu beginnen“ (Arendt 2021, S. 81), in der Ukraine durch demokratische Übereinkunft und Kontrolle die legitimierte Staatsmacht zu etablieren. 

Arendt weist darauf hin, dass eben die Organisation von staatlicher und gesellschaftlicher Macht eine moderne Gefahr in sich birgt: die Büro-Kratie, die Verwaltungsherrschaft (Arendt 2021, S. 82 ff.). „Woran Macht heute scheitert, ist nicht so sehr die Gewalt als der prinzipiell anonyme Verwaltungsappparat.“ (Arendt 2021, S. 82) Die Differenzierung der Gesellschaft erschwert die Formen der Machtkontrolle und die Formen, die die Macht legitimierende Einvernehmlichkeit herzustellen. Das Diskursmodell von J. Habermas (2019, S. 70 – 86) ist ein solcher Versuch, die Vielzahl der Gruppen, die für sich Macht aus einer eigenen Einvernehmlichkeit beanspruchen, miteinander im rationalen Gespräch zu halten, um Macht legitimieren zu können. Es gibt auch andere anspruchsvolle Modelle dafür. 

Wir erleben die Gefährdung der Macht durch Gewalt zunehmend in unserer eigenen, deutschen Gesellschaft. Einen Grund dafür meine ich in dem zu sehen, was H. Arendt in ihrem Essay als Machtverlust, Anonymisierung der Organisationsformen der Gesellschaft  und als zunehmenden Verlust „der Fähigkeit zu handeln“ (Arendt 2021, S. 82) bezeichnet. „Je mehr die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens zunimmt, desto stärker wird die Versuchung sein, einfach zuzuschlagen.“ (Arendt 2021, S. 80) Mit einem Anonymus wie einem Verwaltungsapparat, einem in sich abgeschlossenen System, kann keiner um das rechte Einvernehmen streiten. Gewaltsames Erreichen des Geforderten liegt nahe: man klebt sich auf der Straße an oder bildet gewaltbereite Blöcke bei Demonstrationen.

Wir erleben die Anonymisierung nicht nur in der Bürokratie, wie erfahren sie auch in der Unübersichtlichkeit des politischen Apparates, in dem sich die demokratieerhaltende Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative immer wieder vermischt (z.B. Kabinettsbeschlüsse während der Pandemie, die exekutiven Gesetzescharakter erhalten und nicht durch das Parlament als Legislative verhandelt wurden). Politiker:innen entfernen sich zunehmend von Bürger:innen. Sie kommunizieren allenfalls Ergebnisse und nicht mehr die Prozesse, die zu den Ergebnissen führen. Das führt zur Wahrnehmung der Politik als „Black Box“: Irgendetwas kommt heraus. Wir Bürger:innen werden dabei vorwiegend als Wähler:innen gesehen und behandelt, nicht mehr als die, die Macht des Staates legitimieren.

H. Arendt beschließt ihren Essay mit der Bemerkung: „Wiederum wissen wir nicht, wohin diese Entwicklungen uns führen. Aber wir wissen und sollten wissen, dass jeder Machtverlust der Gewalt Tor und Tür öffnet“ (2021, S. 87). Gewalt aber kann Macht nicht ersetzen, sie kann sie nur vernichten, wenn sie nicht mehr durch legitime Macht in ihrer Ausübung befristet mit Zwecken verbunden wird. Das macht es im Konfliktfall der Mediation, im Kriegsfall dem kritischen Pazifismus schwer.

Quellen:

  • Agamben, G. (12. Aufl. 2019): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Arendt, H, (28. Aufl. 2021): Macht und Gewalt. München (Piper)
  • Foucault, M. (18. Aufl. 2020): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt (Suhrkamp)
  • Habermas, J. (3. Aufl. 2019): Drei normative Modelle der Demokratie, in: Politische Theorie. Philosophische Texte Band 4, Frankfurt (Suhrkamp), S. 70 – 86
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