Musik und Politik

Die Cellistin Anja Lechner formulierte es in ihrer Moderation während des wunderbaren, intensiven und berührenden Jazzabends im Birdland Neuburg (20.01.2023) so: „Musik ist manchmal sehr politisch.“ Musik hat tatsächlich eine lange politische Tradition. Im Politeia-Dialog (Staat) Platons wird der Zusammenhang zwischen „den wichtigen bürgerlichen Ordnungen“ und „den Gesetzen der Musik“ behauptet (Pol 424 c). In den Nomoi (Gesetze) verweist Platon in der Untersuchung staatstragenden Handelns darauf,  dass „die Rhythmen und die Musik überhaupt eine Nachahmung des menschlichen Charakters seien, der besseren oder der schlechteren“ (Nom 798 d). Er zeigt, wie Musik „heiligen Handlungen“ zugeordnet ist, und resumiert, „dass nämlich die Liedsätze für uns [die athenische Polis] feste Satzungen sein sollen“ (Nom 800 b). Die Ordnung der Musik wirkt sich für Platon auf die Menschen in der Ordnung der Polis aus. (Gigon 1974, S. 204 f.) Am Beispiel Platons wird nachvollziehbar, was M. Spitzer (2005, S. 1) in der historischen Einleitung zu seinem Werk zur Neuropsychologie des Musikerlebens schreibt: „Ihre Wirkung auf den Menschen wurde von Priestern und Politikern früherer Hochkulturen klar gesehen. So erklärt sich die mitunter starke Reglementierung all dessen, was mit Musik zu tun hatte, durch den Staat.“ Musik stand im Focus der antiken Politik. Musik war staatstragend.

In seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) verbindet I. Kant die Musik mit „gesellschaftlichem Genuss“ (ebd., S. 45). Er sieht ihre Wirkung auf die Stimmung „selbst … für den, der sie nicht als Kenner anhört“ (ebd., S. 69), darin, dass „das Denken nicht allein erleichtert, sondern auch belebt wird“ (ebd.). Musik wird zum individuellen Ereignis. Die politische Dimension der Musik verschwindet. L. v. Beethoven löst die Musik zur selben Zeit aus dem höfischen Kontext, in dem er als freier „Musikunternehmer“ seine Konzerte, seinen Unterricht und die Verlegung seiner Partituren selbst organisiert und betreibt. Musik dient dem privaten Konsum, für den musikalische Unternehmer:innen ein Angebot schaffen. Dies ist bis heute so geblieben. Dennoch stimme ich der Aussage von Anja Lechner zu, dass „Musik manchmal sehr politisch sei“.

Ein erstes Beispiel: Marcel Reich-Ranicki vermerkt in seiner Autobiographie „Mein Leben“ (1999): „Wenige Monate nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau lassen die deutschen Behörden das Denkmal Frederic Chopins sprengen. Am 3. Juni 1940 untersagt das Propagandamt für das Generalgouvernement Polen die Aufführung von Musikwerken, die mit der polnischen Nationaltradition zusammenhängen. … Wie sich bald herausstellt, betrifft dieses Verbot das Gesamtwerk Chopins.“ (1999, S. 223) Zwei Jahre später werden einige Werke Chopins zusammen mit denen eines anderen polnischen Komponisten wieder freigegebenen, außer für den „jüdischen Wohnbezirk“ in Warschau (ebd.). Musik als Definiens dafür, was für welche Menschen erlaubte Kultur ist. Das Verbot von Musik durch die Taliban in Afghanistan fällt mir sogleich dazu ein. Musik als politisches Machtmittel.

Ein zweites Beispiel: Bob Dylan veröffentlicht 1989 auf seiner Platte „Oh Mercy“ den Song „Political World“ (2016, S. 989 f.) . Die Zeile „We live in a political world“ zieht sich melodisch wie ein roter Faden durch die 11 Strophen des Liedes. Musik als Form des Protestes. Worte werden in Musik übersetzt. Musik macht das Gemeinte eindrücklich und nachdrücklich.

Die zehnte Strophe des Songs lautet in deutscher Übersetzung: 

„Wir leben in einer politischen Welt

Wo Friede überhaupt nicht willkommen ist

Man schickt ihn weg von der Tür, er soll noch weiter wandern

Oder er wird an die Wand gestellt“ (2016, S. 990)

Anja Lechner konzertierte zusammen mit dem ukrainischen Pianisten Vadim Neselovskyi, der in einer eigenen Komposition die gewaltsame Annexion der Krim durch Russland dramatisch zum Klingen bringt. Sie spielten auch Werke des inzwischen 85 Jahre alten ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, der wegen seines unerwünschten Musikstils in Russland schon einmal inhaftiert wurde. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine floh er nach Berlin.

Viele politische Fragen dazu wurden in dem Jazzabend musikalisch gestellt: Wo ist Friede willkommen? Wann kann V. Neselovski die Schönheit Odessas im Frieden zum Klingen bringen? Wann wird der Friede nicht wieder vertrieben, zum Weiterwandern gezwungen, zur Flucht genötigt? Wieviele Wände müssen noch fallen? Musik ist eben manchmal sehr politisch.

Quellen:

  • Dylan B. (2016): Lyrics. Hamburg (Hoffmann & Campe)
  • Gigon, O. (1974, Hg.): Platon. Sämtliche Werke. Band VII: Die Gesetze (Nomoi). Zürich, München (Artemis)
  • Gigon, O. (1974, Hg.): Platon. Sämtliche Werke. Band VIII: Begriffslexikon. Zürich, München (Artemis)
  • Kant, I. (2000, ed. Brandt, R.): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg (Meiner)
  • Platon (1971, ed. Kurz, D.): Politeia. Der Staat, in: Gesamtausgabe Bd. IV. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft)
  • Reich-Raniciki, M. (4. Aufl. 1999): Mein Leben. Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt)
  • Spitzer, M. (2005): Musik im Kopf. Stuttgart, Ney York (Schattauer)

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