„Was ist ein Wort?“ (F. Nietzsche)

Zum Jahrestag des Krieges gegen die Ukraine

„Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“, beantwortet Friedrich Nietzsche 1873 seine eigene Frage (1980, Bd. V, S. 312). Auf die deutschen Debatten über das Richtig und Falsch des Engagements für die Ukraine angewendet: Wenn Nietzsches Bestimmung zutrifft und Worte Abbildungen von Nervenreizen in Lauten sind, dann liegen die Nerven vieler Debattensprecher:innen ziemlich blank. Die einen flüchten sich in militärischen Aktionismus: So viel aggressive Waffen so schnell wie möglich für die Ukraine! Die anderen verhalten sich eher pessimistisch: Jede Waffenlieferung bedeutet mehr Engagement gegen Russland und eskaliert das Risiko eines Atomkrieges, der alle um alles bringt.

In der Perspektive eines kritischen Pazifismus trauen beide Debattenstandpunkte vor allem einem nicht: Verhandlungen und damit dem Wort. Auch wenn sich gerade 141 Staaten der UN-Resolution angeschlossen haben, die Russland zum Rückzug aus der Ukraine und den annektierten Gebieten auffordert, das Misstrauen des russischen Regimes und der westlichen Allianz zur Unterstützung der Ukraine gegeneinander, die Verachtung der russischen Regierung gegenüber der Ukraine ist ständig präsent. Festzuhalten ist: Den gewalt- und angstbesetzten Worten wird eher Glauben geschenkt als den versachlichenden und mitfühlenden.

Der bereits zitierte Text Nietzsches stellt neben die Frage nach dem Wort einen fragenden Appell: „Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst!“ (Nietzsche, 1980, Bd. V, S. 310). Möglicherweise findet sich in der Reflexion des Wissens des Menschen von sich selbst auch ein Hinweis darauf, warum gewalt- und angstbesetzte Worte glaubwürdiger erscheinen als versachlichende und mitfühlende.

In zwei aktuellen philosophischen Reflexionen versuche zwei Aspekte des Wissens des Menschen von sich selbst zu erarbeiten:

Den einen finde ich in einer philosophischen Untersuchung zur „Wirksamkeit des Wissens“ von Frieder Vogelmann (2022), dem Lehrstuhlinhaber für Epistemologie an der Universität Freiburg. Vogelmann beschreibt gegen Ende der Studie sein philosophisches Bild von Wahrheit und Wissen so: Wahrheit kann innerweltlich hergestellt werden. Sie ergibt sich aus  „prekären Konfigurationen von Akteuren und Objekten in sozialen Praktiken“ (Vogelmann, 2022, S. 519), ohne auf sie zurückführbar zu sein (Emergenz). Sie wirkt exklusiv, also ohne Zuhilfenahme weiterer und anderer Wirkursachen, auf Subjektivitäten (Einzelne und Vergemeinschaftungen) und stellt sich so als „schwache Kraft“ (Vogelmann, 2022, S. 427 f.) dar. Sie kann leicht von anderen Kräften wie „Affekten, rhetorischer Macht und physischer Gewalt“ (Vogelmann, 2022, S. 428) überlagert werden kann. Dennoch ist ihr Effekt enorm, weil sie historisch-faktische Zusammenhänge unterbrechen und aufbrechen (Disruptivität) kann (Vogelmann, 2022, S. 428 ff.). Sie polarisiert in wahr und falsch. Wahrheit kann mediatisiert (etwa im Wort, in Erzählungen, in wissenschaftlichen Texten) „als Wissen“ verbreitet werden (Vogelmann, 2022, S. 540). Anders herum ist „Wissen als mediatisierte Form der Kraft von Wahrheit zu verstehen“ (Vogelmann, 2022, S. 521). Wissen und Wahrheit sind immer auf konkrete Situationen bezogen und insofern politisch (Vogelmann, 2022, S. 365 f.).

Hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel, den ich bei Judith Butler in deren Arbeit zur „Macht der Gewaltlosigkeit“ (2021) finde. Butler forscht und lehrt als Professorin für Kritische Theorie an der Universität of California in Berkeley. Sie konkretisiert die politische Dimension von Wahrheit und Wissen durch einen heuristischen Hinweis auf die Entstehung der Erzählung vom Naturzustand des Menschen, den „manche Vertreter des liberalen politischen Denkens“ (Butler, 2021, S. 44) als die Grundlage jeglicher sozialen Dynamik sehen. Ihr Hinweis für die Analyse der Naturzustandserzählung lautet: „Achten wir also darauf, dass diese Erzählung nicht am Ursprung beginnt, sondern inmitten einer Geschichte, die nicht erzählt wird: Mit dem ersten Moment der Erzählung, der auch den Anfang von allem bilden soll, ist beispielsweise über die Geschlechtszugehörigkeit schon entschieden. … Die primäre Grundfigur des Menschlichen ist maskulin.“ (Butler, 2021, S. 52 f.) Ein weitere Beobachtung ergibt sich aus dem von Butler gewählten Verfahren, das Narrativ des Naturzustandes im Kontext einer abgedunkelten Erzählung zu verstehen, nämlich „dass der Mensch von Anfang an erwachsen ist“ (Butler, 2021, S. 53). Der Mensch im Naturzustand „als Ausbruch des Menschlichen in der Welt“ (Butler, ebd.), wird so als Individuum gesetzt, „als wäre dieses Individuum nie Kind gewesen, als hätte nie jemand für es gesorgt“ (Butler, ebd.). Der Urmensch ist ein erwachsenes, männliches Individuum. In den abgedunkelten Kontexten für die Erzählung dürfte das Motiv liegen, weshalb angstbesetzte Worte glaubwürdiger erscheinen als versachlichende und mitfühlende.

Denn diese Entdeckung am liberalen politischen Narrativ vom Urzustand des Menschen ist folgenschwer. Sie blendet zwei existenzielle Bedingungen des Menschseins aus: die Abhängigkeit von anderen und die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Der Urmensch im Naturzustand ist der Butler’schen Heuristik zufolge „keine Tabula rasa, sondern eine eigens leergewischte Tafel“ (Butler, 2021, S. 54).  Von ihr wurde die Verbundenheit des Menschen, die soziale und naturale, ausgetilgt. Braucht das solcher Art vorgestellte Individuum Worte, gar eine Sprache? Oder genügt, eine  Differenzierung G. Agambens (2018, S. 27) aufgreifend, nicht die Stimme allein, der laute Laut, um Stärke auszudrücken oder zu warnen? Wem Stärke anzuzeigen, wen zu warnen?

Das Wort als Abbildung eines Nervenreizes in Lauten, wie ich Nietzsche eingangs zitierte, soll es nicht „in irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“ (Nietzsche, 1980, Bd. V, S. 309) verhallen, ist der Laut des Neugeborenen, das Wort des Kindes und die Sprache des Heranwachsenden und künftigen Erwachsenen. Es setzt ein soziales Band voraus, das andere Menschen impliziert. Es agiert in der menschlichen Gemeinschaft, in der es viele Stimmungen und Stimmen, gleichklingende, zusammenklingende und konkurrierende, gibt. Es entsteht die Sprache, mit der wir uns darüber verständigen, wie wir uns als Menschen und unsere Lebenswelt sehen, in der wir einander erzählen und durch Erzählung Vertrautheit gewinnen. So wird Verständigung auch im Konfliktfall möglich.

Wir verfügen über keine allumfassende Erzählung von uns als Menschen. Wir können uns zumindest darüber verständigen, dass der Mensch nicht grundsätzlich des Menschen Wolf ist. Einfach, weil wir für einander, wie Butler schreibt, „betrauerbar“ sind. „Dass ein Leben betrauerbar ist, bedeutet, … dass es Wert in Bezug auf die Sterblichkeit besitzt“ (Butler, 2021, S. 99). Wenn Politik also eine feministische Perspektive auszeichnet, dann ist es das Wissen um die „Betrauerbarkeit“ von Menschen, die die unbedingte Gleichwertigkeit aller Menschen umfasst. Sie wird sichtbar in zwei existenzialen Merkmalen des Menschen, der Verwiesenheit aneinander im sozialen Band und der Sterblichkeit. 

Wenn Wissen die mediatisierte Kraft der Wahrheit, also ein wirksames und selbstformendes Wissen ist (Vogelmann, 2022, S. 518 ff.), dann erscheint es ethisch geboten, die Narrative für den Krieg Russlands gegen die Ukraine aufzusuchen, sie in Textform zu bringen und den abgedunkelten Hintergrunderzählungen darin nachzugehen. Die Perspektive der Rekonstruktion sehe ich „feministisch“ grundiert: Es geht darum herauszuarbeiten, wozu, mit welchen Mitteln und an welchen Textstellen Betrauerbarkeit, Verwiesenheit aneinander und Sterblichkeit als Merkmale des Menschen getilgt wurden. Die Folgen dieser Tilgungen sind inzwischen nur zu bekannt. Das Ziel dabei ist – und hier komme ich auf die Defizitanmerkung aus der Sicht des kritischen Pazifismus zurück -, Möglichkeiten für vertrauensbildende Sprache herauszudestillieren. Sie können vielleicht zu einem aktuellen „Wörterbuch“ der Verhandlungssprache zwischen der Ukraine und Russlands gefügt werden können. Die Politik und die öffentliche Meinung haben die Chance, auf diesem mühsamen Weg zu entdecken, dass die Falschheitsvermutung nicht die Polarisierung in Waffenaktionismus oder in Eskalationspessimismus betrifft. Waffenaktionismus und Eskalationspessimismus sind zusammen der falsche Pol in einer Polarisierung, wie sie Wahrheit erzeugt (Vogelmann, 2022, S. 431 f.). Die Identifikation des falschen Pols befreit die Beteiligten zur rationalen Suche nach dem richtigen Pol, der die Möglichkeit eröffnet, den falschen Krieg endlich zu beenden. Eine nicht nur deklamierte, sondern eine begriffene feministische Perspektive der Politik legt die Spuren dafür aus: Betrauerbarkeit in Bezug auf die Sterblichkeit jedes einzelnen Menschen, die Sterblichkeit des Menschen überhaupt und die soziale Verwiesenheit aneinander.

Quellen:

Agamben, G. (2018): Was ist Philosophie?, Frankfurt (Fischer)

Butler, J. (2. Aufl. 2021): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Frankfurt (Suhrkamp)

Nietzsche, F. (1980): Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Werke (ed. Schlechta, K.) Band V, München-Wien (Hanser), S. 309 – 322

Vogelmann, F. (2022): Die Wirksamkeit des Wissens. Eine politische Epistemologie. Frankfurt (Suhrkamp)

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