Leben, wenn Gott tot ist

„O große Not, Gott selbst liegt todt“. So beginnt ein reformiertes Karfreitagslied von J. Rist. (Zit. nach: Moltmann, J. (2. Aufl. 1993: Der gekreuzigte Gott. München (Kaiser), S. 221) Am Karsamstag gibt die christliche Theologie dem Tod Gottes Raum. Es geht mir nicht darum, die theologischen Deutungen und Spekulationen dazu nach zu verfolgen. Mir geht es um einen anderen Gedanken, der um eine Lebenserfahrung kreist: Wie ist das Leben, wenn Gott tot ist?

Die Erfahrung begann als philosophisches Experiment. Nachdem ich mich entlang der verschiedenen Vorlesungsreihen Johann G. Fichtes zur Wissenschaftslehre aus den Jahren 1804/05 zum entscheidenden (wörtlich!) Disjunktionspunkt vorgearbeitet hatte, tat sich ein „Hiatus irrationalis“ auf. Im Blick auf den „Hiatus irrationalis“ ist alles (wörtlich!) möglich: Wahrheitsbegründung, absolute Philosophie, Theologie und vernünftige Argumente für einen religiösen Glauben, Agnostizismus, Relativismus, Nihilismus. Es hängt an der Entscheidung des Reflektierenden, welchen weiteren Weg er verfolgen will (wörtlich!). Ob er auf Wahrheit und Geltung verzichtet, ob er die Geltungserhebung der Wahrheit nachvollzieht, es ist die Entscheidung des Reflektierenden. Für die wissenschaftliche Arbeit musste ich der Wahrheit nachreflektieren, um die These meiner Dissertation zu erfüllen. Im Leben entschied ich mich für den Verzicht auf Wahrheit und Geltung. Ein unermessliches Freiheitsgefühl erfasste mich dabei: keine absolute Wahrheit, keine letzte Geltung, kein Gott.

Das ist jetzt 30 Jahre her. Am Anfang war das alles spannungsvoll. Schwer erkrankt ging es darum, die Hoffnung auf ein Weiterleben aus mir, meinem Leben, meinen Bindungen zu schöpfen. Ich suchte im Zusammenhang meines Lebens die sinnvollen Möglichkeiten für den Wiederaufbau meiner Gesundheit, die wertvollen Motive für die Entscheidungen über den weiteren Lebensweg, das Erleben, das das Leben wieder genussvoll macht. Als ich auf die vielen Jahre Rekonvaleszenz und Regeneration zurückblickte, erstaunte ich; denn ich hatte dies alles im Vertrauen auf meine tragenden Lebenszusammenhänge, durch konzentrierte Reflexion und zuweilen durch Neigungsentscheidungen bewältigt. Da war keine „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ (M. Horkheimer). Interessanterweise konnte ich, was berufsbedingt zu meinen Aufgaben gehörte, Religion unterrichten, theologisch argumentieren, Ratsuchende in deren Lebens- und Glaubensnot pastoral ernst nehmen, kirchliche Rituale mit gestalten. Natürlich standen Zweifel an meinem philosophischen Experiment auf. Denn eine Reihe meiner Lebensinhalte passten nicht mehr zu meiner Lebenshaltung. Neue Entscheidungen waren zu treffen.

Heute, im Ruhestand, nach zwanzig Jahren psychotherapeutischer Praxis, nach zehn Jahren aktiver Hospizarbeit mit sterbenden und trauernden Menschen, der zweiten beruflichen Lebenshälfte, ist mir der menschliche, zugleich fachlich begründete Blick zur Haltung im Leben geworden. Menschen menschlich begegnen, das bedeutet mir, für Menschen da sein, mit allem, was ich philosophisch und psychotherapeutisch, zuweilen auch theologisch weiß. Menschen menschlich begegnen, bedeutet mir, nicht von einer einzigen Wahrheit ausgehen, sondern nach dem Wahrhaftigen suchen, das uns verbindet und auch unterscheidet. Was wahrhaftig zu sein beansprucht, prüfe ich auf Rationalität, Sinnhaftigkeit und Lebbarkeit im Rahmen von Freiheit und Verantwortlichkeit, achte dabei immer aufmerksamer auf die „Körperweiser“ dazu und fälle mutige Entscheidungen, zu denen ich auch stehen kann. Es sind nicht immer angenehme Folgen, die sich daraus ergeben. Wenn sie sinnvoll sind, dann lassen sie sich – zuweilen mit einiger Lebensmühe – ertragen. Vor allem machen mir die komplexen Prozesse der Prüfung und des Diskurses, in dem Wahrhaftiges bestehen soll, deutlich: Was für mich gilt, muss nicht für andere gelten. Solange die Anderen und ich uns in der gesellschaftlich-demokratisch vereinbarten Lebenswelt bewegen, ist respektvoller Austausch und kritisches Gespräch möglich. Es gibt, das lernte ich in der Fundamentalreflexion bei Fichte, die übrigens auch den Fundamentalzweifel an allem umfasst, viele Optionen, Geltung für das Leben zu begründen.

„O große Not, Gott selbst liegt todt“! Für manche Menschen mag die Not groß sein. Für andere ist sie es nicht. Für mich ist der Tod Gottes kein Problemfall. Das hat sich in meinem Leben gezeigt. Den Hauptunterschied zu meinem spirituell-religiösen Leben der ersten Lebenshälfte macht die Lebensmühe. Es gibt eben keine Lehrsätze, keine als endgültig ausgesprochenen Antworten, kein eindeutig begründetes Ethos, das nicht mehr hinterfragt zu werden braucht. Dafür lebe ich in der Freiheit, jede Frage an mein Leben und mich aufzugreifen, zu erwägen und abzuwägen und mich so in Verantwortung zu setzen. Ver-Antwortung enthält ja dann die Antwort, die mich an meine Entscheidung bindet. Deshalb berührt mich keine Definition des Menschen mehr als die von V. Frankl: „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“ (Frankl, V. (6. Aufl. 1994): … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München (Kösel), S. 139)

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