„Jahrelang hat Derden nachts in die Sterne gesehen, hat die Unendlichkeit ausgehalten. Ich bin ihm dorthin nie gefolgt. Es war mir unheimlich, ich konnte mich als Staubkorn unter dem weiten Sternenhimmel nicht begrenzen, wurde eins mit dieser Schwärze. Kaum ein Unterschied, so muss es im Tod sein, dachte ich.“ (S. 240)
Es ist ein Buch der Sätze geworden. Einzelne ragen heraus wie Monolithe im Erzählfluss einer liebenden Zweisamkeit. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ich liebe ihn sehr.“ (S. 7 f.) Das Meiste ist damit schon gesagt.
Derden, Helga Schuberts zweiter Mann, ist schwer krank und pflegebedürftig. Sie gab ihm für das Buch diesen Namen, den es wie ihre Google Recherche zeigt, noch nicht gibt. Einmalig sollte er sein. Einmalig und unvergleichbar wie dieser Mann, mit dem sie seit 58 Jahren zusammen ist. Sie lässt als Ich-Erzählerin uns Leser:innen am Leben mit Derden teilhaben. Sie als Studierende, er als Dozent für Psychologie lernen sich an der Universität kennen. „Wortlos ohne Zudringlichkeit“, so beschreibt H. Schubert eine der Begegnungen (S. 16). Sie schildert, wie sie beide ihre Ehen, Familien verlassen, um zusammen zu leben. Sie lässt uns Leser:innen die Veränderung des Professors für Psychologie, der Derden inzwischen geworden ist, sehen: Er wurde zum Maler und Grafiker. Derden erleidet einen Hinterwandinfarkt, der ihn zum palliativ betreuten Patienten werden lässt. Die Aufnahme in ein Hospiz lehnt er ab, weil er dort zwar malen kann, aber auch übernachten muss. „Seitdem sind Jahre vergangen. Und er hat zuhause mehr als dreißig Ölbilder gemalt.“ (S. 33)
„Bald wird er sie nicht mehr erkennen“, sagt eine Palliativärztin zu ihr, die ihren Mann unbedingt pflegen will. Sie beantwortet die Information der Ärztin, spät im Text, auf eigene Weise: „Ich fühlte so ein Verlangen, mich nicht abzufinden, ihn in der Welt zu halten.“ (S. 257) Das Leben mit dem Geliebten verlangt ihr viel ab. Es ist nicht nur die Liebe, das gemeinsame Beginnen des Tages. Es sind nicht nur die wachen, auch einmal kritischen Dialoge, die mit Derden immer einmal gelingen. Es ist auch das Andere, Zehrende, Enttäuschende, was sie erzählt. „Manchmal trauere ich nur um mich, die Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Bitterkeit. Manchmal suche ich Trost im Bett, im Dunklen, kaue eine Tafel weiße Schokolade wie ein Stück Brot, denke an unsere weichen Körper, wie sie zusammenpassten, so verschlungen, so vertraut, die Bettdecke ist wie seine streichelnde Hand …“ (S. 56 f.). Es fällt schwer, in der Gegenwart zu bleiben. „Die Amsel sang wieder einmal so schön, Derden hörte sie, und ich dachte an die Ärztin, die mir kürzlich sagte, nun müssen Sie aber auch seinem Köper die Möglichkeit geben zu sterben!“ (S. 93)
Der Widerspruch zwischen der Unvorstellbarkeit, dass Derden nicht mehr sein wird, und dem Wissen und Erleben seines Sterbens inmitten eines langen und erfüllten Lebens, das ihn immer öfter zu quälen scheint, nimmt uns Leser:innen mit durch die Gezeiten, in denen die beiden leben. Dieses Leben ruft auch Widerstand hervor, Trotz zuweilen. „Das Absurde, das Erbarmungswürdige, das Rührende, das Furchterregende, das Komische, das Egoistische, das unmaskiert in mein Leben einbrach. Es wechselt in einer Minute.“ (S. 238) Es erschöpft auch und ermüdet. „Manchmal möchte ich tot sein, endlich ohne Verantwortung und Pflichten“, schreibt die Ich-Erzählerin (S. 189). Zu allem schwer Erträglichen gehört genauso das Zusammensein, das den Raum für sie selbst aufschließt: „Als ich den Laptop hochfuhr, war ich vollkommen glücklich. Draußen stürmte es. Und es war dunkel. Das Babyphone blinkte neben mir, ich hatte den Eco-Modus eingestellt, der Bildschirm war meist dunkel, so ruhig schlief er. Und ich war ganz in meiner Welt.“ (S. 254)
Helga Schubert gelingt es, das Zusammenleben mit dem hochbetagten, schwerkranken, geliebten Mann zu beschreiben. Sie erreicht dabei die vielen Dimensionen dieses gemeinsamen Lebens, das sich gerade nicht in der Pflege erschöpft. Deutlich wird, was das zusammen Leben fordert und womit sich die beiden Liebenden beschenken. Die Autorin weicht der Beschwerlichkeit nicht aus. Sie berichtet von den Schwierigkeiten, Vertretungen zu finden, die Konflikte mit den Kindern aus der ersten Ehen. Sie erzählt von der Betroffenheit durch das Sterben Anderer aus Nachbarschaft, Beruf und engerem Bekanntenkreis bis hin zur Auseinandersetzung mit den palliativen Beratungen. Sie schildert ihre eigenen Konflikte, ihr Hadern mit dem egoistischen Anspruch auf den geliebten Partner, den sie nicht verlieren will. Sie erzählt die wunderbaren, zauberhaften Momente einer immerwährenden, zärtlichen, leidenschaftlichen Liebe. Anders als Annie Ernaux, der es gelingt, als Ich-Erzählerin die Dritte-Person-Perspektive auf ihr Leben einzuhalten, sieht Helga Schubert realistisch, unbeschönigt, immer aus dem Blick der Ersten-Person auf das Leben. Das war in der Erzählsammlung „Vom Aufstehen“ (2021) so; das gelingt ihr auch im sensiblen Sujet des vorliegenden, neuen Buches.
Ich las dieses Buch schon auch mit den Augen des hospizerfahrenen Therapeuten, Und manchmal dachte ich, genau das sind die ungewollten Grausamkeiten, die in häuslicher Pflege entstehen. Letztlich gehören sie ebenso zum Leben wie die überwältigenden Momente, die die beiden, Derden und sie, miteinander erleben. Wenn Sterben zum Leben gehört, dann fordert dieses Leben eben auch seinen Preis. Es ist ein wichtiges Buch – aus meiner Sicht endlich ein literarisch gelungenes – für alle, die im Kontext Hospice und Palliative Care arbeiten: Leben ist Leben, auch wenn es Sterbenden bindungsbedingte Herausforderungen zumutet. Es ist ein wichtiges Buch für uns alle, die wir mit dem Sterben, auch dem eigenen leben.
Schubert, H.: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe (2023), dtv-Verlag (Im Blog mit Seitenzahlen zitiert)
Schubert, H.: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten (2021), dtv-Verlag