„Es wird viel geredet, aber nur selten ernst gemacht. Nur so kann viel geredet werden. Denn der Ernst verschlägt einem die Sprache.“ Hannes Böhringer macht in seinem Buch „Lücken im Verhau“ (2023, S. 7 / Seitenangabe im Blog dito) Ernst mit der Philosophie. Wie gut, dass der Denker Böhringer in seinem Text die Lücke findet, die seine Eingangsthese lässt: Er redet nicht viel. Er macht Ernst. Sein Denken vollzieht er so, dass er uns Lesende in die Bewegung des Denkens mit aufnimmt. Wir denken uns bei allem Verhau in die Lücken. Das Denken zeigt sich darin als menschlich. Darum geht es ihm. Darum geht es uns. Wer sind wir?
„Sokrates kommt zu spät.“ (S. 33). Vielleicht hatte er jemand getroffen, der frag-würdig war, des Fragens würdig. Vielleicht begab sich vor der Tür Wichtiges. Etwa so, wie es Diotima in Platons Gastmahl (Symposion) in ihrer Rede erzählt. Sokrates hatte in seiner eigenen Rede Philosophie als erotisches Verlangen nach Weisheit charakterisiert. Das erscheint fragwürdig. Die Frage ist: „Wer ist Eros?“ Diotima, die Priesterin, antwortet, Eros Eltern seien dem Mythos zufolge Poros und Penia. „Poros: Durchgang, Öffnung, Weg, und Penia: Armut, Mangel“ (S. 24) Denken ist zuweilen kryptisch. Vor allem wenn es um Bestimmung, um Definition, um die Abgrenzung eines Begriffs geht, arbeitet sich Denken nach den „Lücken im Verhau“ ab. Dabei gewinnt das Denken durch die mythologische Erzählung Aufschub. „Der Aufschub vom Ernst des Lebens verschafft Erleichterung, Freiheit.“ (S. 10)
Dazu passt das Gastmahl, währenddessen Diotima den Mythos von der Geburt des Eros erzählt, um zu einer Antwort durchzufinden, wer er sei. Die Götter, so hebt der Mythos an, feiern die Geburt der Aphrodite. An der Tür bettelt Penia. Sie wird nicht eingelassen. Da kommt Poros betrunken heraus und Penia legt sich zu ihm, empfängt Eros. Als Sohn des göttlichen Poros kommt Eros über die Schwelle zu den Göttern. „Eros findet den Durchgang, aber er macht aus ihm keinen befestigten Weg, keine Methode. Was Eros zu Wege bringt, entgleitet ihm immer wieder, ‚fließt weg‘“. Das Wissen wird ihm kein Besitz. … In der erotischen Spannung von Mangel und Weg, Poros und Aporia (Weglosigkeit), geschieht nach Platon das Philosophieren, zwischen Unverstand und Wissen.“ (S. 25)
Böhringer lädt seine Leser:innen zum philosophischen Denken ein. Er bringt uns an die Tür, vor der wir betteln, bis wir erotisiert den Weg über die „Türschwelle zwischen Begrenztem und Unbegrenztem“ (S. 29) nehmen. „Die Tür öffnet und schließt ähnlich wie die Erkenntnis einen begrenzten Raum. Doch anders als die Tür kann die Erkenntnis den Raum öffnen, indem sie ihn begrenzt.“ (S. 29) Erkenntnis grenzt das Unübersichtliche mit den „Lücken im Verhau“ ein. Die Lücken können so auch Orientierungspunkte sein. Philosophie führt zur „Bescheidenheit des selbstbewussten Nichtwissens“ (S. 55).
Die Bescheidenheit wird durch die gegenwärtig veränderten Bedingungen des Philosophierens, die „neue Unübersichtlichkeit“ (J. Habermas), bestätigt. „Wir reden immer noch von Tür, Haus und Stadt und leben längst in Ballungsräumen, Agglomerationen. Glomus, eng verwandt mit Globus, ist ein klebriger Klumpen, Kloß, ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Die Agglomeration, Rückseite der Globalisierung, verkleistert nicht nur Stadt und Land, sondern auch Politik und Ökonomie, Frieden und Krieg, das Private und Öffentliche, das Eigene und Fremde, das Provinzielle und Internationale, Freiheit und Knechtschaft, Kritik und Affirmation, Stimmungen und Entscheidungen, Täuschungen und Erkenntnisse. Sie erneuert das philosophische Bewusstsein der Schwäche, der Unfähigkeit, klare Unterscheidungen zu treffen.“ (S. 31) Werden wir je wissen, wer wir sind?
Wir wissen ja kaum mit Entschiedenheit, wer wir waren. Das zeigt der Blick Böhringers, immer auf der Suche nach „Lücken im Verhau“, auf die „schaukelnde Wiege“ (S. 97) der Anthropologie. Wer sind wir? Affen aus Europa? „Ich äffe Vorbilder nach, die Alten aus Griechenland und Rom.“ (S. 96) Oder ist es das: Beharrlichkeit im „Verfolgen selbstgesetzter Ziele“ (S. 97)? „Die Menschen scheinen immer wieder einholen zu müssen, was sie glauben, überholt und hinter sich gelassen zu haben. Darum Geschichte.“ (S. 94) Denn: „In der Natur ist der Mensch nichts Besonderes. Ist es seine Besonderheit, sich bewusst werden zu können, nichts Besonderes zu sein?“ (S. 84) Die Anthropologie orientiert, was die Antworten auf die Fragwürdigkeit des Menschen angeht, nur mühsam im „Verhau“. Vielleicht hilft die Musik weiter, die wohl seit Menschengedenken zum Menschen gehört.
Hier lauscht der Philosoph mit Verweis auf G. Deleuze und F. Guattari auf das „Ritornell“ (S. 108 ff.), die kleine Rückkehr, mit der sich der Kreis schließt. „Man ist wieder angekommen, von wo man aufgebrochen war. Aber inzwischen ist viel passiert. Darum ist das Ende anders als der Anfang.“ (S. 108) Ritornelle sind Zwischenspiele, in der Dichtung wie in der Musik. Sie „spielen zwischen Durcheinander und Ordnung, Zwischenspiele zwischen Chaos und Kosmos“ (S. 109) Sie gliedern durch die rituelle Wiederholung. Der Ritus schafft Vertrauen im Unklaren, Unsicheren. Das Ritornell wird bei Böhringer zur Form der Erinnerung, weil es „sich neuen Ereignissen öffnet und die Wiederholung aus ihrem Kreis entlässt“ (S. 113). Bei aller Verpackung, Etikettierung und allem Containering für das Verpackte (S. 115 ff.) ist es sinnvoll, sich der Musik zuzuwenden, den Ritornellen zu lauschen. Sie ist ebenso menschlich wie das Ordnen im Container und durch das Etikett, „doch öffnet die Musik den Kreis über die Menschheit hinaus“ (S.114). Sie vermittelt zwischen dem Dativ, dem sich Gegebenen, der Nähe, dem Subjektiven, und dem Akkusativ, dem Verweisenden und Wertenden, der Distanz, dem Kosmischen. Vielleicht macht das uns Menschen aus: die Fälle von einander unterscheiden zu können, bewusst die Nähe und die Distanz zu suchen – und so die zu sein, die immer wieder wissen, dass etwas fehlt, und auf der Suche sind nach dem, „was wirklich fehlt“ (S. 74).
Da sind sie wieder: Penia, der Mangel und die Armut, Poros, der Durchgang und der Weg, und Eros, der über die Schwelle kommt, ohne bei dem zu bleiben, was er weiß. Welch ein Verhau um uns und in uns! Welch‘ ein philosophisches Buch, das den „Lücken im Verhau“ mit Witz und im Ernst nachgeht.
Böhringer, H. (2023): Lücken im Verhau. Berling (Matthes & Seitz)