Tod, wie er erzählt werden kann

Wie kann der Tod erzählt werden?

Um etwas zu erzählen, was keiner weiß, bediene ich mich apophatischer Sätze. So erzählen die Dichtungen des alten Babylon und Sumer über das, was keiner wissen kann. Auch der ältere der beiden Schöpfungstexte des Alten Testaments (Gen 2, 4 – 25) verwendet sie. Die Strategie ist einfach: Was vor aller Augen liegt, wird aufgehoben. Die Sprache verneint, was wahrgenommen ist.

Wie tot sein ist, erleben wir an Gestorbenen. Wir erleben es nie an uns selbst. Was wir an uns wahrnehmen, ist die Lebendigkeit der Gedanken, des Leibes, der Gefühle. Wir nehmen wahr, dass die Gedanken zuweilen träge sind, spröde und brüchig. Eher ein Rinnsal als ein Gedankenstrom.  Wir nehmen wahr, dass das Gedächtnis sich verändert. Namen entfallen, Zusammenhänge verblassen, Gesichter auch. Gerüche und Klänge bleiben. Gestimmtheit auch. Wir nehmen unsere Kraft wahr, auch wie sie abnimmt und mühsam wieder trainiert werden muss. Energie nehmen wir wahr. Sie lässt uns Lebendigkeit spüren, zuweilen in Muskelkater und Erschöpfung etwas länger. Wir nehmen Gefühle wahr, Begeisterung, Freude, Vertrauen und Liebe. Den Mut, sich dem zu stellen, was uns überfordern wird. Dann sind wir enttäuscht. Wir nehmen Ärger wahr, Resignation und Trauer, wenn wir Lebenswichtiges verloren haben. Wir nehmen uns als lebende Personen wahr, nicht nur als abstrakte Menschen. Als Einzelne mit, unter und neben anderen Einzelnen.

Das alles endet der Tod. Nicht spüren wir die Trauer um uns. Nicht, dass es gerade um einen selbst ging in der Bindung, in der Gemeinschaft. Wir spüren nicht mehr, was unsere Begeisterung und Liebe ist. Wir nehmen keine Energie mehr wahr, keine Stimmung, kein Gedächtnis und kein Gedenken. Gedanken nehmen wir nicht mehr wahr, nicht mehr unseren Leib und seine Regungen.

Totsein lässt sich als Abwesenheit, als Ende von Leben und individueller Lebendigkeit erzählen. Mein Leichnam trägt noch meine Züge. Kein Atem ist wahrzunehmen. Keine Stimme. Ich habe keinen Klang mehr. Ich lebe nicht mehr. So lässt sich Totsein erzählen. Als factum brutum, das sich jedem selbstbezüglichen Kommentar entzieht. Denn auch die Selbstbeziehung ist nicht mehr.

Wir haben uns – auch dank der emsigen Hospizbewegung – daran gewöhnt, den Tod als Ende eines palliativ versorgten, mitmenschlich begleiteten Prozesses zu sehen. Das Sterben scheint beherrschbar geworden. Schmerzen, Übelkeit, Luftnot werden therapeutisch gelindert. Zeiten des Alleineseins und die lange Weile werden durch Besuche ehrenamtlicher HospizbegleiterInnen vertrieben. Ich kann zu Hause sterben oder in einer dafür eingerichteten Umgebung. Der Tod verliert seinen Schrecken. Wir können „das Sterbenkönnen lernen“ (Landsberg, 2009, S. 71). Es gibt ganze Philosophien dafür. Die christliche Theologie hat die „Dialektik von Tod und Leben“ entschärft, wie Paul L. Landsberg in seinem Essay zur „Erfahrung des Todes“ (1935) beschreibt. Denn in der christlichen Theologie wird darin „die wirkliche Wandlung der Lage des Menschen durch das Erscheinen und das Beispiel des Christus ausgedrückt“ (Landsberg, 2009, S. 81). 

Woran dies alles nichts ändert, ist die Tatsache des Totseins. Dass ich nicht mehr lebe. Dass es mich als individuelle Person lebendig nicht mehr gibt. Körperhaft bleibe ich noch eine Weile, als Leichnam. Manche Idee, das eine oder andere Bonmot oder einige Anekdoten bleiben in Erinnerung. Auch das Haus, das ich baute, und das Buch, das ich schrieb. Vor allem die Kinder bleiben eine Weile, für die ich Verantwortung übernahm. Wenn sie am Grab von mir erzählen, erzählen sie von einem Toten.

Das ist die Ungeheuerlichkeit. Das ist die sichere Zumutung an mich, an den Menschen: Du wirst tot sein. Alle Narrative über dich und zu dir sind Erzählungen über einen Toten. Du selbst hast dazu nichts mehr zu sagen. Darüber helfen weder Hospizlichkeit, noch Glaube, noch Ideologie hinweg. Der Tod ist das factum brutum im Leben, der das Leben aufhebt. Der Tod ist das factum brutum, das zu denken gibt, ohne im Denken verwandelt, versöhnt oder aufgehoben zu werden. Es gibt keine Synthese von Leben und Tod. Es gibt nur das Lebendig sein. Es gibt nur das Totsein. Auch daran ist in diesen Tagen zu erinnern. Wir sollten es aussprechen lernen: Ich werde tot sein. 

Landsberg, P. (2009): Die Erfahrung des Todes. Berlin (Matthes & Seitz)

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