Gesucht: Meisterdenker!

Frank Plasberg hatte in seine Sendung „Hart aber fair“ (Mo., 15.11.2021) neben zwei MedizinerInnen, einem Journalisten, einem Ministerpräsidenten auch eine Philosophin eingeladen. Als Thema war die Frage gestellt: „Nur ja keinen Zwang – ist unsere Politik beim Impfen zu feige?“ Welche Aufgabe übernimmt eine Philosophin, ein Philosoph in einer solchen Runde?

Die Expertise der Philosophie besteht in der methodischen Art und Weise des kritischen Fragens, wodurch Argumente und Hypothesen rational nachvollziehbar analysiert werden. Sie besteht des Weiteren darin, die durch die Analyse freigelegten Elemente und Strukturen der Diskursinhalte auf Prinzipien zu beziehen und dadurch Zusammenhänge zu verdeutlichen oder zu generieren, die die Wahrheitsnähe der Argumente und Hypothesen zeigen. Sie schafft damit begriffliche Klarheit und begründende Plausibilität im Diskurs. sKurz: Sie denkt das Denken durch die methodische Rekonstruktion des Denkaktes.

Diese Expertise war für mich in der Art und Weise, wie Frau Flaßpöhler angesichts der Frage nach der Notwendigkeit des Impfzwangs agierte, nicht zu entdecken. Sie verschanzte sich hinter teilweise bewertenden Behauptungen. Sie habe einen völlig anderen Demokratiebegriff wie die anderen TeilnehmerInnen der Diskussionsrunde. Sie sehe die Freiheit des Arguments in der Frage nach der Notwendigkeit eines politisch verordneten, weil durch die neue Faktenlage der Pandemieentwicklung notwendig gewordenen Impfzwanges, in den öffentlichen Argumentationsräumen (Medien, Journalismus) durch Unausgewogenheit gefährdet. Sie fragte, ob man den demokratischen Diskurs durch eine „Expertokratie“ ersetzt haben wolle. Die Argumentation der Philosophin beruhte ihrerseits auf derselben Grundlage wie die der medizinischen ExpertInnen, des Politikers und des Journalisten: Zahlen, die als Fakten bewertet werden, und eine wissenschaftliche Evidenz, die neben Studien immer wieder auf die Erfahrung der derzeitigen medizinischen Praxis und gesundheitspolitischen Lage Bezug nahm. Nun ist empirischer Faktencheck nicht die Hauptaufgabe und vorwiegende Expertise philosophischen Denkens. 

Eher sind es die derzeit notwendigen rationalen Differenzierungen, um die Spreu des Querdenkens oder der naiven, unkritischen Übernahme von Abwehrhaltungen gegenüber der Wirkung einer Coronainfektion und der davor weitestgehenden schützenden Impfung von den psychologisch nachvollziehbaren Befürchtungen einzelner Menschen zu trennen. Dazu gehört für mein philosophisches Verständnis eine Klärung der Dialektik von Freiheit und Verantwortlichkeit. Die Position der MedizinerInnen ist deutlich: Alle ungeimpften BürgerInnen und Bürger in Deutschland tragen Verantwortung dafür, wenn durch das „Volllaufen“ der Intensivstationen dort andere lebensbedrohliche Erkrankungen nicht mehr behandelt werden können. Welche Verantwortung haben nun MedizinerInnen (nicht das Gesundheitswesen!) in den Intensivstationen? Stellen Sie an ihre schwersterkrankten HochrisikopatientInnen die Frage, ob sie sich den physisch und psychisch extrem belastenden Behandlungen unterziehen wollen? Ob sie ein Leben mit dem zusätzlichen Risiko drohender Long-Covid-Symptome führen wollen? Öffnen ÄrztInnen den existenziellen und ethischen Entscheidungsraum für diese HochrisikopatientInnen, sich in Freiheit auch gegen die curative Behandlung und für eine palliative Versorgung zu entscheiden? Da kommt durch die Wahrnehmung der Verantwortlichkeit anstelle des Durchvollzuges einer pragmatischen Behandlungsdoktrin die Freiheit als Möglichkeit der Selbstbestimmung ins Spiel. Philosophisch gesehen darf die individuelle Selbstbestimmung übrigens nicht allein oder vorwiegend unter dem Aspekt der Freiheit gesehen werden, sondern ist dialektisch auch in der Perspektive der persönlichen Verantwortung für die Wirkungen und Folgen der freien Bestimmung des Selbst zu denken.

Für die Frage nach der Verpflichtung zur Impfung gegen die Wirkungen des Coronavirus ist die Verantwortungskomponente in der Selbstbestimmung ein zentrales Thema. Erst die Dialektik von Freiheit und Verantwortung im Begriff der Selbstbestimmung ermöglicht es, zwischen Zwang und Verpflichtung zu unterscheiden. Impfzwang herrscht dann, wenn durch Gesetzgebung oder auf dem Verordnungsweg eine die Existenz des Einzelnen in ihrer Grundlage betreffende strafbewehrte Auflage zur Impfung gemacht würde, der der Einzelne sich nicht entziehen kann. Die Impfung würde dann mit exekutiver Gewalt durchgesetzt werden: z.B. Massenimpfungen unter Anwendung exekutiver Maßnahmen. Der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin würde unter die Doktrin einer Impfexekutive gezwungen – oder es würden den Verweigernden weitestgehende Freiheitsrechte entzogen, bis hin zur Isolation. Zwang bedeutet – auf den Punkt gebracht – die Aufhebung von Freiheit und Verantwortlichkeit.

Anders die Impfverpflichtung, die auf einer gesetzlichen, parlamentarisch abgestimmten Anordnung mit Aufforderungscharakter beruht, die individuelle Freiheit für diesen einen Fall der Coronaimpfung der sozialen gesellschaftlichen Verantwortung unterzuordnen. Keiner wird zur Impfung gezwungen, sondern jeder, der sich gegen die Impfung aufgrund einer Güterabwägung oder auch naiv entscheidet, akzeptiert die zumutbaren Folgen seiner Entscheidung dagegen. Sie bestehen in der passageren Einschränkung bestimmter Freiräume, solange die pandemische Lage gefährdet. Hier sind Freiheit und Verantwortlichkeit die Grundlage für die Entscheidung.

Derartige klärende Differenzierungen, zu denen die Diskussion in der Sendung viele Gelegenheiten gab, wären Aufgabe der anwesenden Philosophin gewesen. Philosophische Publizistik unterscheidet sich eben von philosophischer Expertise. Der Verzicht auf eine kompetente philosophische Argumentation spielt dem pragmatischen Regime von MedizinerInnen in die Hände, die in einer unreflektierten Melange studienbasierte Zahlen als Fakten, evidenzbasierte Prozesse als wissenschaftliche Notwendigkeiten, und die unhinterfragte Doktrin der Lebenserhaltung um jeden Preis als ethische Verpflichtung zur Rechtfertigung für das eigene Tun präsentieren. 

Es bräuchte philosophische Meisterdenker, um das zu entwirren, um durch die Klärung zu veränderten Haltungen zu gelangen. Freiheit und Verantwortlichkeit sind keine starren Strukturen unseres Hirns, sondern ein dialektisches Gefüge unseres Denkens, das situativ priorisiert werden kann. Es gibt Situationen, in denen die Freiheit in einsichtiger Verantwortung eingeschränkt werden muss, um einen vorrangigen Wert zu verwirklichen, wie den des solidarischen Schutzes von Menschen vor einer durch Forschung immer besser eingrenzbaren lebensbedrohenden Infektionsgefahr durch ein Virus. Und es gibt Zeiten, in denen die Verantwortung der sich ausweitenden Freiheit einfach zur Orientierung dient, um Grenzen nicht zu übersehen. Es ist die Philosophie, die solche komplexen Prozesse in methodischer Rationalität durchklärt und die Komplexität des Themas in vielschichtigen, aber nachvollziehbaren Diskursen abbildet. 

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