Vor vielen Jahren begegnete mir in einer Adventspredigt ein faszinierendes Bild: der Wächter. Ihm begegnet man am Tor oder an der Tür. Sein Platz ist die Schwelle. Hinter seinem Rücken liegt das Haus, die Stadt, das Land. Seinen Blick richtet der Wächter nach draußen. Seine Augen halten Ausschau in das, was außerhalb des Hauses, der Stadt oder des Landes liegt, das er bewacht.
Er ist kein Späher. Seine Aufgabe ist es nicht zu erkunden, was weit draußen vor sich geht. Er bleibt auf der Schwelle. Denn er wacht über das, was hinter der Schwelle liegt. Er achtet auf die, die sich der Schwelle nähern. Wach soll er sein und achtsam. Aufmerksam hält er seinen Blick dem entgegen, der auf ihn zukommt. Du fühlst dich erfasst durch den Blick des Wächters. Sein Blick ruht auf dir. – Du fühlst, wie er dich erspürt. Du fühlst das Prüfende, das Abwägende in diesem Blick. Auf einmal machst du dir Gedanken über dich. Wer bin ich? Wen sieht der Wächter da, wenn er mich anblickt? Du beginnst dich selber anzuschauen mit dem achtsamen Blick des Wächters.
Es scheint dir ein fragliches Ansehen, das du in den Augen des Wächters gewinnst. Und doch: Da sieht dich einer an. Er achtet auf dich. Er versucht, das an dir wahr zu nehmen, was für ihn, den Wächter wichtig ist. Du fühlst dich angesehen. Du fühlst dich beachtet. Du fühlst dich für wahr genommen.
Der Wächter ist auf die Wahrnehmung angewiesen. Er muss etwas erfassen von der Wahrheit des Menschen, der da auf die Schwelle zukommt, an er als Wächter steht. Denn er entscheidet darüber, wer die Schwelle übertritt und wer vor der Tür bleibt. Dafür trägt er Verantwortung.
Das Wachen ist seine Aufgabe. Wach ist er, der Wächter. Er wacht mit allen Sinnen darüber, was sich an der Schwelle ereignet. Er hütet die Schwelle. Wer an ihm vorbei in das Haus oder die Stadt kommen will, der muss es wert sein, über die Schwelle zu gehen. – Wenn du dich dem Wächter näherst, dann prüfe deine Absichten und frage nach den Motiven dafür, über die Schwelle einzutreten. Denke darüber nach, woher du kommst und wohin du willst. Ist der Übergang sinnvoll für dich? Was willst du damit erreichen? Oder tut es not, die Schwelle zu überschreiten? Musst du dich sogar überwinden?
Vielleicht bist du vielleicht ungeduldig. Du fühlst dich in deiner Freiheit eingeschränkt. Mag sein, dass du es nur schwer einsiehst, dass der Wächter dich einfach durch seine Anwesenheit zur Rechenschaft fordert. Andererseits wirst du dir klar darüber, was du hinter der Tür oder dem Tor suchst und erwartest: Heimat oder ein neues Land, Schutz und Geborgenheit oder neue Chancen, das Vertraute oder die neue Begegnung, Heimkehr in die Vergangenheit oder Aufbruch in die Zukunft …
Jedenfalls: Du kommst an der Schwelle an und begegnest dem Wächter, der sie hütet. Hinter ihm ahnst du das künftige Leben. Hinter dir liegt ein Leben, das du bereits gelebt hast. Du bist an der Schwelle angekommen.
Advent ist eine Schwellenzeit. In ihm ist Ankunft. Ankunft des Menschen an der Schwelle zur Zukunft. Beide, Herkunft und Zukunft des Menschen, begegnen sich an der Schwelle der Gegenwart. Dadurch beginnt eine neue Zeit. Du gehst aus der Vergangenheit heraus. Und bist dabei, das Gelebte und Erlebte in einen neue Zeit hinein zu überschreiten. An der Schwelle begegnest du den Wächtergestalten. Sie prägen das Bild des Advents.
Frage dich, wie der Wächter vor der neuen Lebenszeit aussieht?
Die Wächter sind Menschen, an denen sich abzeichnet, worauf zu du gehst. Die Propheten des alten Judentums sind solche Wächter, die mit ihrem achtsamen, wachen Blick das Leben des Menschen durchschauen. Sie haben Gott im Rücken. Er sendet sie, damit sie ein Segen sind für die Menschenwelt. Ihr Durchblick klärt uns Menschen auf: Das Volk im Dunkeln ersieht ein Licht. Der Wurzelstock Isais treibt einen neuen Spross. Golden erscheint das Neue, zu dem aus aller Welt die Menschen aufbrechen. Und Frieden waltet, der die Feinde einander voller Respekt, ja im Spiel begegnen lässt … Im Wort und Leben der Propheten zeichnet sich ab, was noch auf den Menschen zukommt. Zuweilen sind es auch die inneren Weiser des persönlichen Lebens. In ihnen verbindet sich die Weisheit des Leibes mit der Klugheit der Seele. Das lässt die Werte wieder erstrahlen, die zum Leben auch am morgigen Tag bewegen.
Wir sollten uns den Wächtern, Propheten und Weisern stellen. Ihren Durchblick aushalten und ihre Orientierung aufnehmen. Was sich uns zeigt, sind Lebensschwellen, über die wir im Leben gehen werden, damit es unser persönliches Leben wird. Das ist Advent.